Versetzung (Materialwissenschaft)

Stufenversetzung und ihr Burgersvektor
Stufenversetzung in einem Kristall mit kubisch-primitivem (kp) Gitter
(Blick entlang der Versetzungslinie;
gegenüber der oberen Abb. um
90° nach links gekippt)

Die Versetzung ist in der Werkstoffwissenschaft ein Modell für einen eindimensionalen Gitterfehler in einem Kristall. Sie kann beispielsweise entstehen

Die Versetzung wird durch eine Versetzungslinie dargestellt. Sie kann nicht im Inneren eines Kristalls enden. Man unterscheidet zwei Grundtypen von Versetzungen, die Stufenversetzung und die Schraubenversetzung. Ein wichtiges Merkmal zur Charakterisierung einer Versetzung ist der Burgersvektor.

Typen

Es gibt zwei Grundtypen von Versetzungen und beliebige Mischformen zwischen ihnen.

Stufenversetzung

Schema einer Stufenversetzung

Burgersvektor und Versetzungslinie stehen senkrecht zueinander. Eine Stufenversetzung kann man sich als eine zusätzliche Halbebene von Teilchen (Atome, Ionen) vorstellen, die in einen perfekten Kristall eingeschoben ist. Den Ort, wo diese Halbebene endet, nennt man den Versetzungskern oder die Versetzungslinie. Dort bewirkt die Versetzung die stärkste Verzerrung des Gitters, was ein hochenergetisches Dehnungsfeld um die Versetzungslinie herum ergibt (vgl. Abbildung).

Die Energie einer Stufenversetzung pro Längeneinheit  l beträgt

{\displaystyle {\frac {E_{\text{Stufe}}}{l}}\approx {\tfrac {3}{4}}G\cdot b^{2}}

mit G = Schubmodul.

Schraubenversetzung

Schema einer Schraubenversetzung

Burgersvektor und Versetzungslinie liegen parallel. Eine Schraubenversetzung kann man sich als eine Ebene vorstellen, die sich um die Versetzungslinie windet.

Die Energie einer Schraubenversetzung pro Längeneinheit ist geringer als bei der Stufenversetzung:

{\displaystyle {\frac {E_{\text{Schraube}}}{l}}\approx {\tfrac {1}{2}}G\cdot b^{2}.}

Der typische Versetzungsring weist daher mehr Bereiche mit Schrauben- als mit Stufencharakter auf und hat Ellipsenform.

Eigenschaften

Jede Versetzung hat zwei wichtige Parameter: die Versetzungslinie und den Burgersvektor.

Burgersvektor

Ermittlung des Burgersvektors

Der Burgersvektor \vec{b} (benannt nach Johannes Martinus Burgers) beschreibt die Richtung, in der die Versetzungsbewegung unbedingt vorkommt. Sein Betrag entspricht der Entfernung zwischen zwei benachbarten Atomen in dieser Richtung, seine Richtung wird von der Kristallstruktur des Materials diktiert.

Der Burgersvektor lässt sich nach folgender Vorgehensweise bilden:

Der Burgersvektor mit der niedrigsten Energie (wächst mit dem Quadrat seines Betrages) liegt in dichtgepackten Ebenen:

Die Energie eines Kristalls kann absinken, wenn sich die Versetzung in zwei Partialversetzungen mit jeweils nur halb so großem Burgersvektor aufspaltet. Im kfz-Gitter sind besonders die Shockley-Versetzungen interessant. Durch Kombination von zwei Shockley-Versetzung kann dann wiederum eine sogenannte Lomer-Cotrell-Versetzung gebildet werden, die eine weitere Absenkung der Energie herbeiführt. Lomer-Cotrell-Versetzungen sind oftmals „sesshaft“, können sich also nicht weiter bewegen, da sie in einer anderen Ebene als die Ausgangsversetzung liegen.

Sichtbarmachung

TEM-Aufnahme von Versetzungen in einer Legierung

Die Gitterverzerrungen um eine Versetzungslinie können mit einer Reihe von Methoden sichtbar gemacht werden. Diese eignen sich grundsätzlich auch zur Bestimmung der Versetzungsdichte ρ (siehe dort).

Des Weiteren ist es in jüngerer Zeit mittels hochauflösender Transmissionselektronenmikroskopie (HR-TEM) in einigen Halbleitern gelungen, Versetzungskerne in nahezu atomarer Auflösung sichtbar zu machen.

Versetzungsbewegung als Erklärung der Plastizität

Ehemals verwendetes Konzept der theoretischen Festigkeit

Bis in die 1930er Jahre war es eine große Herausforderung, die Plastizität und Festigkeit der Metalle auf mikroskopischer Ebene zu erklären. In einem „defektfreien“ Kristall wird die theoretische Festigkeit \tau _{m} beschrieben durch den Ausdruck

{\displaystyle \tau _{m}={\frac {G}{2\pi }}}

G = Schubmodul.

Diese Abschätzung resultiert aus Betrachtungen zum Verschiebewiderstand zweier übereinanderliegender Atomlagen. Die tatsächlich beobachteten Werte liegen jedoch für praktisch alle Metalle ein Vielfaches unter dieser Abschätzung. Bei kubisch-raumzentrierten Kristallgittern liegt wird die theoretische Festigkeit um den Faktor 100 verfehlt, bei kubisch-flächenzentrierten und hexagonalen Gittern um den Faktor 1.000 bis 10.000.

Entdeckung und Beschreibung von Versetzungen

1934 beschrieben Egon Orowan, Michael Polanyi und Geoffrey I. Taylor unabhängig und etwa gleichzeitig, wie dieser Widerspruch durch das Versetzungskonzept aufgelöst werden kann. In den 1950er-Jahren wurde ihr Konzept unter Zuhilfenahme von neu entwickelten Elektronenmikroskopen, die Versetzungen sichtbar machen konnten, erstmal experimentell bestätigt.

Bei der Ermittlung der theoretischen Festigkeit ging man davon aus, dass alle Atome einer Atomlage gleichzeitig den Verschiebewiderstand überwinden müssten. Nach dem Versetzungskonzept ist das jedoch nicht der Fall: Unter der Wirkung einer im Vergleich zur theoretischen Festigkeit sehr kleinen Schubspannung können sich Versetzungen „bewegen“, d.h., die Atome der benachbarten Halbebene brechen ihre Bindungen kurzzeitig auf und binden sich an die der nächsten Halbebene an. Die Versetzungslinie „wandert“. Dies ist der elementare Mechanismus der plastischen Verformung. Er geschieht immer nur in solchen Gleitebenen, in denen auch der Burgersvektor liegt. Außer bei reinen Schraubenversetzungen, die auch quergleiten können, ist durch die Lage der Versetzung die Gleitebene bereits fest vorgegeben.

Versetzungsmultiplikation

Frank-Read-Quelle zwischen zwei Hindernissen A und B

Die Bewegung einer Versetzungslinie kann durch die Wechselwirkung mit Leerstellen, anderen Versetzungen oder Ausscheidungen wie Carbiden gestört werden. Dies behindert den Gleitprozess. Laufen mehrere Versetzungen aufeinander auf, überlagern sich die Spannungsfelder und führen dazu, dass die Versetzung zwischen zwei Hindernissen ausbeult. Die nachfolgenden Versetzungen nehmen nun die Plätze der vorherigen Versetzungen ein. Es entsteht eine sogenannte Frank-Read-Quelle, die in realen Kristallen über einhundert neue Versetzungen aussenden kann. Die Versetzungsmultiplikation führt zu Kaltverfestigung.

Die Kaltverfestigung ist irreversibel, solange die Temperatur unterhalb ca. 30 % der absoluten Schmelztemperatur Tm (in Kelvin) bleibt. Darüber kann es zur Ausheilung (Kristallerholung) der Versetzungen kommen durch Rekombination oder Anordnung der Versetzungen zueinander, wodurch die Festigkeit wieder deutlich sinkt und die Verformbarkeit steigt. Bei noch höheren Temperaturen werden die Versetzungen durch Gefügeneubildung beim Rekristallisationsglühen beseitigt.

Versetzungen in Halbleitern

In der Halbleiterindustrie werden möglichst versetzungsarme Einkristalle benötigt, da sonst die elektronischen Eigenschaften der Kristalle gestört würden. Großtechnisch können heute bei Silizium und Germanium die niedrigsten Versetzungsdichten (<< 108 cm−2) erreicht werden. Bei allen anderen makroskopischen Kristallen ist die Versetzungsdichte um Größenordnungen höher. In Galliumarsenid liegt die Versetzungsdiche bei ca. 108 cm−2, in mittels Heteroepitaxie gewachsenen Galliumnitrid-Schichten bei 1010 cm−2. Die Versetzungen kommen in Einkristallen vor allem durch thermische Spannungen beim Abkühlprozess in das Material, bei Halbleiterheteroschichtsystemen meist durch eine Gitterfehlanpassung. Möglichst versetzungsarme Einkristalle erhält man daher durch schonende Abkühlung.

Siehe auch

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Basierend auf einem Artikel in Wikipedia.de
 
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Datum der letzten Änderung:  Jena, den: 16.04. 2024