Methode der Charakteristiken
Die Methode der Charakteristiken ist eine Methode zur Lösung partieller Differentialgleichungen (PDGL/PDE), die typischerweise erster Ordnung und quasilinear sind, also Gleichungen vom Typ
für eine Funktion
mit der Anfangsbedingung
.
(Dabei heißt eine Gleichung quasilinear, falls sie in der höchsten Ableitung
linear ist).
Die grundlegende Idee besteht darin, die PDE durch eine geeignete Koordinatentransformation auf ein System gewöhnlicher Differentialgleichungen auf bestimmten Hyperflächen, sogenannten Charakteristiken, zurückzuführen. Die PDE kann dann als Anfangswertproblem in dem neuen System mit Anfangswerten auf den die Charakteristik schneidenden Hyperflächen gelöst werden. Störungen breiten sich längs der Charakteristiken aus. Die Methode kann auch allgemein auf hyperbolische partielle Differentialgleichungen angewandt werden, deren Prototyp die Wellengleichung ist, und auf einige weitere PDEs höherer Ordnung.
Charakteristiken spielen eine Rolle in der qualitativen Diskussion der Lösung bestimmter PDE und in der Frage, wann Anfangswertprobleme für diese PDE korrekt gestellt sind.
Die Methode geht auf Joseph-Louis Lagrange zurück (1779, quasilineare partielle Differentialgleichungen erster Ordnung). Sie wurde 1784 von Gaspard Monge geometrisch begründet, was Johann Friedrich Pfaff 1815 und Augustin-Louis Cauchy 1819 auf mehr als zwei Dimensionen erweiterten.
Idee
Um die partielle Differentialgleichung in ein System von gewöhnlichen
Differentialgleichungen zu überführen, werden die Koordinaten
und
über zwei neue Koordinaten
und
parametrisiert, das heißt man hat Gleichungen
und
.
Zunächst wird die gesuchte Funktion
mittels Kettenregel
nach
abgeleitet:
Die obige quasilineare PDE wird mit den „Charakteristikengleichungen“
,
zu
Also ein System gewöhnlicher Differentialgleichungen in den neuen
Koordinaten, wenn man auf der rechten Seite noch die Parametrisierungen
und
einsetzt.
Geometrische Interpretation
Geometrisch kann das Vorgehen wie folgt beschrieben werden.
Die Lösungsfunktion
führt zu Flächengleichungen
im Raum der Koordinaten
(Integralflächen). Eine solche Integralfläche hat den Normalenvektor:
und die PDE besagt geometrisch, dass das Vektorfeld
der Charakteristiken auf IMG class="text"
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tangential zur Integralfläche
ist, denn das Skalarprodukt
des Vektorfelds
mit dem Normalenvektor
verschwindet:
.
Die Lösungen der PDE sind Integralkurven
des Vektorfeldes
(im Teilraum der x,t sind das die Charakteristiken). In einer
Parameterdarstellung der Integralkurve mit Parameter
ergeben sich die Gleichungen:
für die Charakteristiken oder (Lagrange-Charpit-Gleichungen):
Beispiele
Einfache Transportgleichung
Gegeben sei eine einfache Transportgleichung, ein einfaches Beispiel eines Typs von PDEs 1. Ordnung, die einen zeitlich-räumlichen Fluss beschreiben (zum Beispiel Advektion, Transport von Chemikalien in einer Flüssigkeit):
mit der Anfangsbedingung ,
und der reellen Konstanten
.
Für die partiellen Ableitungen von
nach
bzw.
wurde hier die übliche Indexschreibweise
bzw.
verwendet. Ableitung von
nach
und Koeffizientenvergleich liefert ein System von gewöhnlichen
Differentialgleichungen:
sowie die Anfangsbedingungen .
Da die Gleichungen hier komplett voneinander entkoppelt sind, ist die Lösung sehr einfach:
.
Hieraus folgt sofort
und damit die Lösung der Transportgleichung in den alten Koordinaten:
.
sind die Gleichungen der Charakteristiken. Der Wert von
auf der x-Achse bei
legt den Wert von
längs der Charakteristiken-Geraden mit Steigung
für alle Zeiten fest, was sich mathematisch in der Form der Lösung
ausdrückt. Längs der Charakteristik ändert sich
nicht, was gerade durch die Differentialgleichung
längs der Charakteristik
ausgedrückt wird.
Verallgemeinerte Transportgleichung
Man betrachte eine allgemeinere Transportgleichung mit variablen Koeffizienten:
mit der Anfangsbedingung .
Es wird eine neue Variable
eingeführt, so dass die PDE sich auf Kurven
für
auf eine gewöhnliche Differentialgleichung reduziert wird. Dazu wird
gewählt (die Charakteristiken-Gleichungen), so dass:
Die PDE wird dann eine gewöhnliche Differentialgleichung:
Die zweite Koordinate der Koordinatentransformation ist
und die Funktionswerte u längs der Kurven
sind durch die Anfangswerte in
vorgegeben.
Betrachtet man zum Beispiel die Gleichung:
mit ,
so ergeben sich mit
wieder die Charakteristiken
wie in Beispiel 1, aus der dritten Gleichung
ergeben sich aber Lösungen
.
Man hat hier also keine konstanten Lösungen längs der Charakteristik, wie im
vorangegangenen Beispiel der Fall war, sondern ein exponentielles Abklingen mit
der Zeit.
Als weiteres Beispiel werde
betrachtet, mit .
Hier ist
und man hat keine Geraden als Charakteristiken, sondern
.
Längs der Charakteristiken ist der Funktionswert konstant, so dass sich als
Lösung
ergibt.
Burgersgleichung
Ein weiteres Beispiel sind in der Physik auftretende Erhaltungssätze der Form
,
zum Beispiel die Burgersgleichung im Fall verschwindender Viskosität (nicht-viskose Burgersgleichung):
und damit
mit der Anfangsbedingung .
Hier ist
,
die Gleichung ist nichtlinear. Die Charakteristiken sind
,
das heißt Geraden, die aber eine variable Steigung haben, die vom Funktionswert
längs der Charakteristiken abhängt. Die Lösung ist formal ähnlich wie im
Beispiel der einfachen Transportgleichung
und längs der Charakteristik konstant, dort gilt
.
Die Burgersgleichung wird oft als Modellsystem nichtlinearer hydrodynamischer Gleichungen benutzt. Das Neue ist in diesem Fall, dass sich die Charakteristiken wegen der variablen Steigung schneiden können. Am Schnittpunkt wird die Lösung mehrdeutig und eine eindeutige Lösung des Problems existiert nicht mehr. Es bildet sich eine Unstetigkeit, für in Richtung fortschreitender Zeit konvergierende Charakteristiken eine Stoßwellenfront, und bei divergierenden Charakteristiken eine Verdünnungsfront. Man kann den Zusammenbruch klassischer Lösungen aber durch Betrachtung schwacher Lösungen (Distributionen) umgehen, wobei zur Auswahl der physikalisch korrekten Lösung Entropie-Bedingungen hinzugezogen werden. Im Fall der Burgers-Gleichung hat die Stoßwelle eine Geschwindigkeit, die dem Mittelwert aus den Funktionswerten u rechts und links der Stoßfront entspricht.
Wellengleichung
Die Wellengleichung ist der Prototyp einer linearen hyperbolischen partiellen Differentialgleichung 2. Ordnung:
mit einer Konstanten .
Man transformiert auf neue Variablen
,
,
womit sich die Wellengleichung in:
transformiert, woraus:
oder
folgt, also
oder
.
Die Gleichungen der Charakteristiken sind
oder
mit einer Konstanten
.
Allgemeine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung
Die allgemeine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung ist gegeben durch:
wobei hier partielle Ableitungen durch Indizes angedeutet sind.
Betrachtet man die Matrix
der Koeffizienten der höchsten Ableitungen, sind die Gleichungen elliptisch
für ,
parabolisch
für
und hyperbolisch für
.
Zusätzlich zur PDE gelte auf einer beliebigen Kurve:
Das sind drei lineare Gleichungen für die zweiten Ableitungen .
Damit sich diese eindeutig aus den als bekannt vorausgesetzten Werten von
bestimmen lassen, muss für die Determinante gelten:
Für einige Kurven, die Charakteristiken der PDE (der Name stammt von Gaspard
Monge), gilt dies nicht, dort gilt :
oder
Das Anfangswertproblem ist nur eindeutig lösbar, falls die Kurven, auf denen
die Anfangswerte vorgegeben sind, nicht tangential zu den Charakteristiken sind.
Das ist die Aussage des Satzes
von Cauchy-Kowalewskaja für das sogenannte nicht-charakteristische
Cauchy-Problem. Da unter dem Wurzelzeichen
steht, ergibt sich, dass Hyperbolische Gleichungen zwei Charakteristikenscharen
haben, parabolische eine und elliptische gar keine.
Man kann die Charakteristiken auch geometrisch als Kurven in zwei Dimensionen
betrachten, deren Normalenvektoren
die Gleichung
erfüllen (äquivalent gilt das für die Tangentialvektoren der Kurven).
Da ,
gilt dann
Führt man zur Diagonalisierung der quadratischen Gleichung eine Hauptachsentransformation durch, erhält man nur beim Fall der hyperbolischen Gleichung, das heißt die Eigenwerte haben entgegengesetzte Vorzeichen, eine Form, die wie in obigem Beispiel der Wellengleichung durch Variablentransformation auf Gleichungen 1. Ordnung mit zwei Charakteristiken zurückgeführt werden kann.
So ist etwa für die Wellengleichung:
und die Normalenvektoren
stehen senkrecht auf den zugehörigen Charakteristiken
bzw.
.
Ein Beispiel einer Gleichung, in der alle drei Typen von PDE vorkommen, ist die Euler-Tricomi-Gleichung oder Tricomi-Gleichung:
für die ,
die für positive
hyperbolisch ist, für
parabolisch und für negative
elliptisch. Entsprechend hat sie für negative
keine Charakteristiken, für
eine, die sich für
verzweigt und dort die Charakteristikengleichung
hat, also Charakteristiken
.
Literatur
- Fritz John: Partial Differential Equations, 4. Auflage, Springer Verlag 1982
- Eberhard Zeidler u.a.: Teubner Taschenbuch der Mathematik, Teil 1, 1996.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.10. 2021