Vergleichsspannung

Vergleichsspannung
Tresca- und Mises-Festigkeitskriterium im Spannungsraum

Die Vergleichsspannung ist ein Begriff aus der Festigkeitslehre. Dieser bezeichnet eine fiktive einachsige Spannung, die aufgrund eines bestimmten werkstoffmechanischen bzw. mathematischen Kriteriums eine hypothetisch gleichwertige Materialbeanspruchung darstellt wie ein realer, mehrachsiger Spannungszustand.

Anhand der Vergleichsspannung kann der wirkliche, i. A. dreidimensionale Spannungszustand im Bauteil in der Festigkeits- oder in der Fließbedingung mit den Kennwerten aus dem einachsigen Zugversuch (Material-Kennwerte, z.B. Streckgrenze oder Zugfestigkeit) verglichen werden.

Grundlagen

Zur vollständigen Beschreibung des Spannungszustandes in einem Bauteil ist im Allgemeinen die Angabe des Spannungstensors (Tensor 2. Stufe) notwendig. Dieser enthält im allgemeinen Fall (Kräfte- und Momentengleichgewicht) sechs verschiedene Spannungswerte (da einander zugeordnete Schubspannungen gleich sind). Durch die Transformation des Spannungstensors in ein ausgezeichnetes Koordinatensystem (das Hauptachsensystem) werden die Schubspannungen zu Null und drei ausgezeichnete (Normal)Spannungen (die Hauptspannungen) beschreiben den Beanspruchungszustand des Systems äquivalent.

Die Elemente des Vektors der Hauptspannungen bzw. des Spannungstensors können nun in einen Skalar überführt werden, der zwei Bedingungen genügen soll:

Anwendungsbereiche von Festigkeitshypothesen. SH: Schubspannungshypothese, GEH: Gestaltänderungshypothese, NH: Normalspannungshypothese.

Die Rechenvorschrift zur Bildung dieser skalaren Vergleichsspannung bezeichnet man als Vergleichspannungshypothese bzw. als Versagensregel. Im Rahmen einer Tragfähigkeitsanalyse vergleicht man die Vergleichsspannung mit zulässigen Spannungen. Durch die Wahl der Hypothese enthält sie implizit den Versagensmechanismus und ist damit ein Wert, der die Gefährdung des Bauteils unter der gegebenen Beanspruchung ausdrückt. Die Wahl der jeweiligen Vergleichspannungshypothese hängt also immer vom Festigkeitsverhalten des nachzuweisenden Materials sowie vom Lastfall (statisch, schwingend, Stoß) ab.

Es gibt eine ganze Anzahl von Hypothesen zur Berechnung der Vergleichsspannung. Sie werden in der Technischen Mechanik häufig unter dem Begriff Festigkeitshypothesen zusammengefasst. Die Anwendung hängt vom Materialverhalten und teilweise auch vom Anwendungsgebiet (wenn etwa eine Norm die Anwendung einer bestimmten Hypothese fordert) ab.

Am häufigsten wird im Maschinenbau und im Bauwesen die Gestaltänderungsenergiehypothese nach Richard von Mises angewendet. Außer den hier genannten gibt es noch weitere Hypothesen.

Gestaltänderungshypothese (von Mises)

Nach der Gestaltänderungshypothese, auch Gestaltänderungsenergiehypothese (kurz: GEH) oder Mises-Vergleichsspannung nach Richard von Mises genannt, tritt Versagen des Bauteils dann auf, wenn die Gestaltänderungsenergie einen Grenzwert überschreitet (s. auch Verzerrungen bzw. Deformation). Verwendet wird diese Hypothese für zähe Werkstoffe (z.B. Stahl) unter ruhender und wechselnder Beanspruchung. Die Mises-Vergleichsspannung wird im Maschinenbau und im Bauwesen am häufigsten eingesetzt -- für die meisten gängigen Materialien (nicht allzu spröde) unter normaler Belastung (wechselnd, nicht stoßartig) ist die GEH einsetzbar. Wichtige Anwendungsgebiete sind die Berechnungen von Wellen, die sowohl auf Biegung als auch auf Torsion beansprucht werden, sowie der Stahlbau. Die GEH ist so konstruiert, dass sich bei hydrostatischen Spannungszuständen (gleich große Spannungen in allen drei Raumrichtungen), eine Vergleichsspannung von Null ergibt. Denn plastisches Fließen von Metallen ist isochor und selbst extreme hydrostatische Drücke haben keinen Einfluss auf den Fließbeginn (Experimente von Bridgman).

Beschreibung im allgemeinen Spannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {\sigma _{x}^{2}+\sigma _{y}^{2}+\sigma _{z}^{2}-\sigma _{x}\sigma _{y}-\sigma _{x}\sigma _{z}-\sigma _{y}\sigma _{z}+3(\tau _{xy}^{2}+\tau _{xz}^{2}+\tau _{yz}^{2})}}}

andere Schreibweise:

{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {{\frac {1}{2}}{\big [}{\left({\sigma _{x}-\sigma _{y}}\right)^{2}+\left({\sigma _{y}-\sigma _{z}}\right)^{2}+\left({\sigma _{z}-\sigma _{x}}\right)^{2}}+6\left({\tau _{xy}^{2}+\tau _{yz}^{2}+\tau _{xz}^{2}}\right){\big ]}}}}

Beschreibung im Hauptspannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {{\frac {1}{2}}{\big [}(\sigma _{I}-\sigma _{II})^{2}+(\sigma _{II}-\sigma _{III})^{2}+(\sigma _{III}-\sigma _{I})^{2}{\big ]}}}}

\sigma_I, \sigma_{II} und \sigma_{III} sind die Hauptspannungen.

Beschreibung im ebenen Spannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {\sigma _{x}^{2}+\sigma _{y}^{2}-\sigma _{x}\sigma _{y}+3\tau _{xy}^{2}}}}

Beschreibung im ebenen Verzerrungszustand mit:

\sigma_z = \nu (\sigma_x +\sigma_y)
{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {(\sigma _{x}^{2}+\sigma _{y}^{2})(\nu ^{2}-\nu +1)+\sigma _{x}\sigma _{y}(2\nu ^{2}-2\nu -1)+3\tau _{xy}^{2}}}}

Beschreibung in Invariantendarstellung:

{\displaystyle \sigma _{v,M}={\sqrt {3I_{2}^{'}}}}

wobei I_2^' die zweite Invariante des Spannungsdeviators s_{{ij}} ist:

I_2^' = \frac{1}{2} s_{ij} s_{ij}

Schubspannungshypothese (Tresca, Coulomb, Saint-Venant, Guest)

Es wird davon ausgegangen, dass für das Versagen des Werkstoffes die größte Hauptspannungsdifferenz verantwortlich ist (Bezeichnung in einigen FE-Programmen: \sigma_\mathrm{int} Intensität). Diese Hauptspannungsdifferenz entspricht dem doppelten Wert der maximalen Schubspannung \tau_\max – dadurch wird sie bei zähem Material unter statischer Belastung, welches durch Fließen (Gleitbruch) versagt, angewandt. Im Mohr’schen Spannungskreis ist die kritische Größe der Durchmesser des größten Kreises. Die Schubspannungshypothese findet aber auch im Maschinenbau ganz allgemein Anwendung, da der Formelapparat im Vergleich zur GEH einfacher zu handhaben ist und man mit ihr im Vergleich zu Von Mises (GEH) auf der sicheren Seite liegt (es kommen im Zweifelsfall etwas größere Werte für die Vergleichsspannung und damit auch etwas mehr Sicherheitsreserven heraus).

{\displaystyle \sigma _{v,T}=2\tau _{\max }}

Räumlicher Spannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,T}=\max(\vert \sigma _{I}-\sigma _{II}\vert ;\vert \sigma _{II}-\sigma _{III}\vert ;\vert \sigma _{III}-\sigma _{I}\vert )}

\sigma_I, \sigma_{II} und \sigma_{III} sind die Hauptspannungen.

Ebener Spannungszustand (vorausgesetzt \sigma _{x} und \sigma _{y} haben unterschiedliche Vorzeichen):

{\displaystyle \sigma _{v,T}={\sqrt {(\sigma _{x}-\sigma _{y})^{2}+4\tau _{xy}^{2}}}}

Hauptnormalspannungshypothese (Rankine)

Es wird davon ausgegangen, dass das Bauteil aufgrund der größten Normalspannung versagt. Im Mohr'schen Spannungskreis ist der kritische Punkt die maximale Hauptspannung. Die Hypothese wird angewendet für Werkstoffe, welche mit Trennbruch, ohne Fließen, versagen:

Räumlicher Spannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,R}=\sigma _{I}}

für

{\displaystyle \sigma _{I}\geq 0\quad \&\quad \sigma _{I}\geq \vert \sigma _{III}\vert }

ansonsten

{\displaystyle \sigma _{v,R}=\vert \sigma _{III}\vert =-\sigma _{III}}

für

{\displaystyle \sigma _{III}<0}

Ebener Spannungszustand:

{\displaystyle \sigma _{v,R}={\frac {(\sigma _{x}+\sigma _{y})+{\sqrt {(\sigma _{x}-\sigma _{y})^{2}+4\tau _{xy}^{2}}}}{2}}}

Quadratisches rotationssymmetrisches Kriterium (Burzyński-Yagn)

Mit dem Ansatz

 3I_2' =
 \frac{\sigma_\mathrm{eq}-\gamma_1I_1}{1-\gamma_1}
 \frac{\sigma_\mathrm{eq}-\gamma_2I_1}{1-\gamma_2}, \qquad \gamma_1 \in [0;\,1[

folgen die Kriterien:

- Konus von Drucker-Prager (Mirolyubov) mit  \gamma_1 = \gamma_2 \in ]0,1[ ,

- Paraboloid von Balandin (Burzyński-Torre) mit \gamma_1 \in ]0,1[, \gamma_2 = 0 ,

- Ellipsoid von Beltrami mit \gamma_1 = - \gamma_2 \in ]0,1[ ,

- Ellipsoid von Schleicher mit \gamma_1 \in ]0,1[, \gamma_2<0 ,

- Hyperboloid von Burzyński-Yagn mit \gamma_1 \in ]0,1[, \gamma_2 \in ]0,\gamma_1[ ,

- einschaliges Hyperboloid.

Die quadratischen Kriterien lassen sich explizit nach  \sigma_\mathrm{eq} auflösen, was ihren praktischen Einsatz förderte.

Die Querkontraktionszahl bei Zug lässt sich mit

 \nu_+^\mathrm{pl} =
 \frac{-1+2(\gamma_1+\gamma_2)-3\gamma_1\gamma_2}{-2+\gamma_1+\gamma_2}

berechnen. Die Anwendung von rotationssymmetrischen Kriterien für sprödes Versagen

\nu_+^\mathrm{pl}\in ]-1;~\nu_+^\mathrm{el}]

wurde nicht genügend untersucht.

Kombiniertes rotationssymmetrisches Kriterium (Huber)

Das Kriterium von Huber besteht aus dem Ellipsoid von Beltrami

 3 I_2' = \frac{\sigma_{eq}-\gamma_1 I_1}{1-\gamma_1} \frac{\sigma_{eq}+\gamma_1 I_1}{1+\gamma_1} für I_1>0

und einem zu ihm im Schnitt  I_1=0 gekoppelten Zylinder

 3 I_2' = \frac{\sigma_{eq}}{1-\gamma_1} \frac{\sigma_{eq}}{1+\gamma_1} für I_1\leq 0

mit dem Parameter \gamma_1 \in [0;\,1[.

Der Übergang im Schnitt I_1=0 ist stetig-differenzierbar. Die Querkontraktionszahlen bei Zug und Druck ergeben sich zu

\nu_+^{pl}=\frac{1}{2}(1-3\gamma_1^2)
\nu_-^{pl}=\frac{1}{2}

Das Kriterium wurde 1904 entwickelt. Es setzte sich jedoch zunächst nicht durch, da es von mehreren Wissenschaftler als unstetiges Modell verstanden wurde.

Unified Strength Theory (Mao-Hong Yu)

Die Unified Strength Theory (UST) die um 60° gegeneinander gedreht sind:

\sigma_\mathrm{I}-\frac{\alpha}{1+b}(b\sigma_\mathrm{II}+\sigma_\mathrm{III})-\sigma_\mathrm{eq}=0
\alpha\sigma_\mathrm{I}-\frac{1}{1+b}(b\sigma_\mathrm{II}+\sigma_\mathrm{III})+\sigma_\mathrm{eq}=0

mit \alpha=\frac{\sigma_+}{\sigma_-}\in[0,1] und b=\frac{\tau\,(\sigma_++\sigma_-)-\sigma_+\sigma_-}{\sigma_-\,(\sigma_+-\tau)}\in[0,1].

Mit b=0 ergibt sich das Kriterium von Mohr-Coulomb (Single-Shear Theorie von Yu), mit {\displaystyle b=({\sqrt {3}}-1)/2\approx 0{,}3660} das Pisarenko-Lebedev Kriterium und mit b=1 folgt die Twin-Shear Theorie von Yu (vgl. Pyramide von Haythornthwaite).

Die Querkontraktionszahlen beim Zug und beim Druck folgen als

\nu_+^\mathrm{pl}=\frac{\alpha}{2}
\nu_-^\mathrm{pl}=\frac{1}{2\alpha}

Cosinus Ansatz (Altenbach-Bolchoun-Kolupaev)

Oft werden die Festigkeitshypothesen unter Verwendung des Spannungswinkels

\cos 3\theta = \frac{3\sqrt{3}}{2}\frac{I_3'}{I_2'^{\frac{3}{2}}}

formuliert. Mehrere Kriterien isotropen Materialverhaltens werden im Ansatz

 (3I_2')^3 \frac{1+c_3 \cos 3\theta+c_6 \cos^2 3\theta}{1+c_3+
 c_6}=  \displaystyle
\left(\frac{\sigma_\mathrm{eq}-\gamma_1\,I_1}{1-\gamma_1}\right)^{6-l-m}\,
        \left(\frac{\sigma_\mathrm{eq}-\gamma_2\,I_1}{1-\gamma_2}\right)^l \, \sigma_\mathrm{eq}^m

zusammengefasst.

Die Parameter c_{3} und c_{6} beschreiben die Geometrie der Fläche in der \pi -Ebene. Sie müssen die Bedingungen

 c_6=\frac{1}{4}(2+c_3), \qquad c_6=\frac{1}{4}(2-c_3), \qquad c_6\ge \frac{5}{12}\,c_3^2-\frac{1}{3}

erfüllen, welche sich aus der Konvexitätsanforderung ergeben.

Die Parameter \gamma_1\in[0,\,1[ und \gamma_2 beschreiben die Lage der Schnittpunkte der Fließfläche mit der hydrostatischen Achse (Raumdiagonale im Hauptspannungsraum). Diese Schnittpunkte werden hydrostatische Knoten genannt. Für die Materialien, die unter der gleichmäßigen 3D-Druckbelastung nicht versagen (Stahl, Messing usw.), ergibt sich \gamma_2\in[0,\,\gamma_1[. Für die Materialien, die unter dem gleichmäßigen 3D-Druck versagen (harte Schäume, Keramiken, gesinterte Materialien), gilt \gamma_2<0.

Die ganzzahligen Potenzen l\geq0 und m\geq0, l+m< 6 beschreiben die Krümmung des Meridians. Der Meridian ist mit l=m=0 eine Gerade und mit l=0 eine Parabel.

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Basierend auf einem Artikel in: Wikipedia.de
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Datum der letzten Änderung:  Jena, den: 11.04. 2024